chiliLetter 2/2020
    

 

 








 

 
  

 

Liebe Leserin
Lieber Leser

 
Bedeutet das Ende der Fasnachtszeit nun mehr Bedauern oder Erleichterung? Oder, im Falle eines Wohnortes in einem reformiert geprägten Kanton, ist es mehr Vorfreude oder drohendes Ärgernis? Ob ablehnend, kritisch, wohlwollend oder eng verbunden, Fasnacht ist nicht gleich Fasnacht. Fasnacht ist nicht nur lauter Alkohol, pardon laut und Alkohol, Fasnacht hat eine äusserst kreative Seite, Fasnacht hat mitunter satirisch-bissigen Humor, Fasnacht kann auch sehr poetisch sein.
 
Warum all diese Erklärungen im Newsletter einer Kommunikationsagentur? Zumal chilimedia ja nicht als fasnächtliche Hochburg bekannt ist (und meine eigene 34-jährige Schnitzelbank-Karriere an der Fasnacht 2014 geendet hatte). Aus einem einzigen, äusserst wichtigen Grund: Weil wir das alles dürfen. Man kann heute zwar jeden Tag Donald Trump einen Idioten schimpfen oder gerichtlich abgesegnet den AfD-Politiker Bernd bzw. Björn Höcke als Faschisten bezeichnen. Aber je näher und konkreter, je lokaler Person und Thema, desto heikler. An der Fasnacht darf man sich ungestraft über den Stadtpräsidenten lustig machen, man darf die Bundesräte in Schnitzelbänken durch den «Gaggo» ziehen. Alles mehr oder weniger witzig gemeint, aber auf jeden Fall weder strafbar noch Anlass für irgendwelche Form von Sanktionen juristischer, beruflicher oder persönlicher Natur.
    
Bitte recht freundlich
  
Die Aussage «wir dürfen das» scheint banal. Sie kam mir auch in den Sinn, als ich unlängst im Tages Anzeiger eine Seite las mit dem Titel «Bitte recht freundlich», ein Hintergrund über die Pressefreiheit in anderen Ländern. Ich erwartete Beiträge über China, Brasilien und die Türkei, und ich fand Grossbritannien, Frankreich, USA, Australien, Israel und Russland (zumindest dies keine Überraschung…). [Link zum Nachlesen / PDF]
 
Umso mehr müssen wir Sorge tragen, dass wir das nach wie vor dürfen – unabhängige, freie Medienarbeit, vertiefte Recherche, das unverdeckte Nennen von Sachverhalten und Personen, und Y%kLoGwçédmjs125**/sd … (sorry, die Entschlüsselung dieser Zeile ist noch unter Verschluss …). Geniessen wir dieses «Dürfen», auch wenn es einmal jährlich laut umgesetzt wird, und wehren wir uns vehement gegen all jene, die diese Freiheit für Rassismus und Rechtsextremismus nutzen, wie man in diesen Tagen Medienberichten aus Basel, der Ostschweiz und Madrid entnehmen kann.
 
    

 

Archiv
  

Zeitungen aus zwei Jahrhunderten

Es war zwar nur eine kurze, einspaltige Zeitungsmeldung wert, aber dahinter verbirgt sich ein riesiger Schatz an Informationen: Die neue Version des schweizerischen Zeitungsarchivs. Die Plattform www.e-newspaperarchives.ch umfasst 128 Titel aus über 200 Jahren, bestehend aus 587'732 Ausgaben, 4'973'421 Seiten und 40'545'935 Artikeln. Die Benutzung ist kostenlos, aber spannender und manchmal auch witziger als jede aktuelle Zeitungsausgabe.
 
Bei längeren Nachforschungen für www.saelitheater.ch bin ich zufälligerweise auf folgende Nachrichtenmeldung (!) gestossen, die im Tonfall durchaus mit jedem heutigen Social-Media-Beitrag mithalten kann [St. Galler Volksblatt, 27. Mai 1871, Link zum Original / PNG]:
Luzern (Corr.) «Eine interessante Erscheinung (...) ist die Wiederwahl des Hr. Reg-Raths Jost. Weber. Wir hatten geglaubt, beide Parteien sollten wenigstens an diesem verschiedenfarbigen ‹Ichneumon› einen gewissen Ekel empfinden. Es war nicht der Fall und jetzt sitzt er als Mittelstück der ganzen neuen Regierungsflöte mitten drinn. Charakterisch für diesen politischen Färbergesellen ist die Thatsache, dass er bis 4 Wochen vor den Grossrathswahlen immer und regelmässig und ohne Zweifel gegen Honorar – denn dieser Mensch schreibt nichts umsonst – in die ‹Basler-Nachrichten› geschrieben gegen Bischof Lachat und die Luzerner-Konservativen. Mehrere Wochen vor den Wahlen hat aber der Hauslehrer und Privatsekretär Konstantin Siegwart Müllers wieder konservative Lunte gerochen und nicht mehr an die ‹Basl. Nachr.› geschrieben. Und siehe da! Der luzernische Ichneumon ist wieder gewählt! Wir gratuliren.»
 
Anmerkungen: Der Ichneumon ist eine Raubtierart. Das Wort wurde offenbar als Bezeichnung für einen schwachen und listigen Menschen verwendet. Constantin Siegwart-Müller war einer der Führer der Ultramontanen Partei in Luzern. Er betrieb aktiv die Eskalation der Streitigkeiten der Kantone und spielte eine wichtige Rolle während des Sonderbundskrieges 1847.
 
    
   
Ähnliche elektronische Fundgruben gibt es auch für Zeitschriften (www.e-periodica.ch), die ältesten darunter datieren aus den Anfängen des 18. Jahrhunderts. Und für Bilder lohnt sich ein Blick auf www.e-pics.ethz.ch, das Bildarchiv der ETH-Bibliothek, in dem rund 3 Millionen Bilder abgelegt sind.
 
Viel Vergnügen beim Online-Stöbern durch die Vergangenheit!

Nicolas Russi 
Stv. Geschäftsführer chilimedia GmbH