chiliLetter 7/2020
    

 

 








 

 
  

 

Liebe Leserin
Lieber Leser

 
Unsere Sprache lebt von Nuancen, deren Bedeutung und Schwierigkeit man erst erkennt, wenn man in einer Fremdsprache solchen Finessen näherkommen will (und oft scheitert). Manchmal entscheidet schon nur das Auswechseln eines einzigen Buchstabens (Penner und Kenner) über eine komplette Sinn-Veränderung, manchmal das Fehlen einer einzigen Letter (was wäre ein Trauring ohne «N»?). Ein «Poser» (kopfloser Automotoren-Fetischist) und ein «Loser» (Verlierer) wiederum lesen sich zwar anders, aber haben inhaltlich wohl mehr Verwandtschaft, als es die damit Gemeinten je zugeben würden.
 
Anlass für diesen kalauernden Texteinstieg ist jedoch ein anderes Wortpaar: Das englische «Fake» (Fälschung) und das deutsche «Fakt» (Tatsache). In dieser kleinen orthografischen Differenz steckt ein Übel der Gegenwart: In der Politik, in der Wirtschaft, in den Medien. Während die Quantität der verfügbaren Informationen und Daten ins Unfassbare steigt (in diesem Jahr dürfte die weltweit gespeicherte Datenmenge über 50 Zettabyte liegen, was 50'000'000'000 mal einer üblichen Terrabyte-Harddisk entspricht, die wiederum vier Millionen Bücher speichern kann, Quelle PwC Schweiz), sinken Wahrheitsgehalt und Evidenz kontinuierlich. Die Technologien erlauben es, dass Falschmeldungen ebenso rasch den Erdball umrunden wie fundierte Forschungsresultate, dass Verschwörungstheorien und Räubergeschichten ähnliches Gewicht erhalten wie mehrfach geprüfte Nachrichten.
 
Selbst als Kommunikationsagentur, die sich professionell der Informationsvermittlung widmet, stehen wir dieser Lawine ohnmächtig gegenüber. Wir haben, dank langjährigem Journalismus-Background, zumindest einen ausgeprägteren Hang zum Nachprüfen und Hinterfragen. Doch was geschieht mit all jenen, die Social-Media-Kanäle für Fakten-Sammlungen und populistische Schlagzeilen in den Medien für die Darstellung der veritablen Probleme und deren Lösung halten?
Bin ich der Einzige, der sich nach Fakten sehnt (und froh wäre, man würde ihn vom restlichen, unsäglichen Informationsmüll befreien)? Natürlich gibt es in der Kommunikation auch Graubereiche. Man kann wirklich nicht immer jedes Detail kommunizieren. Weglassen kann hilfreich oder zwingend erforderlich sein, aus Datenschutzgründen, wegen Persönlichkeitsrechten, weil man sich selber schadet. Aber mit falschen Zahlen und Aussagen operieren, absichtlich oder ungewollt, ist keine Option.
 
Die letzten Wochen und Tage haben diese Überlegungen noch verstärkt. Es ist für ein hochentwickeltes Land peinlich genug, wenn Medien mangels Vertrauen in die offiziellen Zahlen eigene Infektionsstatistiken führen (müssen). Es ist hochnotpeinlich, wenn ein Bundesanwalt derartige Erinnerungslücken vorspielt. Und es ist völlig blamabel und inakzeptabel, wenn Bundesämter, deren «Fake»-Faktor unbedingt bei 0,00000 stehen sollte, falsche Zahlen publizieren. Sei es vor einiger Zeit in der amtlichen Botschaft zur CVP-Initiative zur Heiratsstrafe, sei es letzte Woche in der Statistik zur Ausschaffungsquote rechtskräftig verurteilter Personen und zur Härtefallklausel. Wie man einen Sachverhalt beurteilt und welche Schlüsse man daraus zieht, das hat mit Gesellschaftsbild, mit Meinung zu tun. Worauf man sich bei der Meinungsbildung abstützt, das sollte den Wahrheitsgehalt 100% haben und ist höchst sensibles Gut. Tragen wir Sorge dazu – zu «Fakt» statt «Fake»!
    
Keystone
  
PS: Keystone-SDA sucht aktuell eine Journalistin für «Fact-Checking». Und schreibt dazu: «Das Überprüfen von Fakten ist das Qualitätsmerkmal von Keystone-SDA schlechthin. Dennoch stellen das Internet und insbesondere die sozialen Medien unsere Tätigkeit wie alle journalistisch arbeitenden Redaktionen vor neue Dimensionen der Herausforderung beim Überprüfen von Fakten. Das gilt für die Menge der Informationen, für die Geschwindigkeit und für das technische Know-how. Darauf reagiert Keystone-SDA mit der neuen Funktion eines Verification Officers.» Der einzigen schweizerischen Nachrichtenagentur kann man ihr Monopol und in den letzten Jahren fragwürdige Kündigungen vorhalten, zumindest in diesem Punkt ist man sich glücklicherweise der Verantwortung bewusst..
 
    

 

Häbse-Theater
  

Mit Maske ins Theater?

Ganz ohne Virus gehts auch in diesem Newsletter nicht. Leider trifft dies wohl noch lange auf unser Leben zu. An gewisse Verhaltensweisen hat man sich bereits gewöhnt, mit anderem kann man sich kaum abfinden. Wohlwissend, dass wir zwar über den Berg sind, aber beileibe nicht an der Talsohle angelangt. Und trotzdem möchten wir alle ja irgendwie leben – mit Sport und mit Kultur, aktiv und/oder als Konsument. Gerade in diesen Bereichen scheint die generelle Unsicherheit jedoch am grössten. Was darf ich? Was macht Sinn? Wo und wie gefährde ich niemanden? Wie halte ich das Risiko möglichst klein? Vor einigen Tagen hat das Basler Häbse-Theater per Newsletter eine Online-Umfrage lanciert, um zu ermitteln, ob man bereit ist, ab September in den engen Sitzreihen mit Maske einer Vorstellung beizuwohnen. Die spontane Antwort lautete «Nein» – es reichen Maskenpflicht im öV, im Spital, beim Coiffeur. Doch später schien mir die Antwort zu voreilig. Wäre nicht auch dies ein Zeichen der Solidarität? Oder bin ich ein solches «Mimösli», dass ich einen Theater-Abend mit Mundschutz nicht aushalte? Personal mit Kundenkontakt musste sich an die Maske gewöhnen, warum nicht auch diese Bedingung zugunsten eines kulturellen Abends akzeptieren?
 
    
   
Allen wünsche ich noch möglichst viele sonnige Sommerwochen, gute Gesundheit sowie Durchhaltewillen und Pflichtbewusstsein im Umgang mit den veränderten Lebensbedingungen. Und wenn ich mal jemanden im Zug nicht grüsse – es sehen halt mittlerweile alle ziemlich gleich aus …

Nicolas Russi 
Stv. Geschäftsführer chilimedia GmbH